P. Barcella u.a.: Der Streik in den SBB-Werkstätten in Bellinzona

Cover
Titel
Der Streik in den SBB-Werkstätten in Bellinzona. Arbeitskämpfe im 21. Jahrhundert


Autor(en)
Barcella, Paolo; Moreschi, Alessandro; Pelli, Mattia; Rossi, Gabriele; Valsangiacomo, Nelly
Erschienen
Zürich 2019: edition 8
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Koller, Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich

Die Schweiz ist statistisch gesehen seit Jahrzehnten ein streikarmes Land. Zwar rufen die runden Jahrestage des Landesgeneralstreiks vom November 1918 jeweils einer breiteren Öffentlichkeit in Erinnerung, dass die Schweiz bis in die späten 1940er-Jahre durchaus eine intensive und zuweilen blutige Streiktradition hatte. Auch die beiden landesweiten Frauenstreiks von 1991 und 2019 haben für großes Aufsehen gesorgt und zu kontroversen Diskussionen über das Mittel des Streiks geführt. Die Zahl der Arbeitskämpfe in einem traditionelleren Sinne ist indessen überschaubar geblieben, obwohl die Schweizer Gewerkschaften seit den 1990er-Jahren ihre Streikfähigkeit bedeutend erhöht haben. Die relativ wenigen Streiks erhalten in der Regel eine umso größere mediale Aufmerksamkeit. Seit der Jahrtausendwende ragen in dieser Hinsicht vor allem zwei Arbeitskämpfe heraus: Der landesweite Branchenstreik im Baugewerbe 2002, der zur Einführung des „Rentenalters 60 auf dem Bau“ führte, sowie der Streik um die Eisenbahnwerkstätten in Bellinzona im Frühjahr 2008, der im Zentrum des anzuzeigenden Buches steht.

Im März 2008 kündigte die Direktion der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) an, ihre Werkstätten in Bellinzona abzustoßen. Dies führte unmittelbar zu einem Ausstand der 430-köpfigen Belegschaft, der von großen Demonstrationen und einem riesigen medialen Echo begleitet war und mit rund vier Wochen Dauer zum längsten Streik in einem schweizerischen Staatsbetrieb wurde. Im Kanton Tessin solidarisierten sich breite Bevölkerungskreise sowie die (bürgerlich dominierten) kantonalen und städtischen Behörden mit den Streikenden. An Ostern las in der Karosseriemalerei der SBB-Werkstätten sogar der Bischof von Lugano vor laufenden Fernsehkameras eine Messe. Zu den umfangreichen Aktivitäten der Streikenden gehörten Führungen für Schulklassen und Delegationen aus der Politik durch die bestreikten Werkstätten, wo auch eine Bühne für Konzerte und Theaterstücke aufgebaut worden war. Zudem gab es gemeinsame Aktionen streikender Bau- und Eisenbahnarbeiter. Am 19. März, dem katholischen Feiertag für San Giuseppe Lavoratore, Ehemann der Muttergottes und eben auch Handwerker, reisten die Streikenden für eine Demonstration in die Bundesstadt Bern. In der Folge richtete der Bundesrat einen Runden Tisch mit dem freisinnigen Altpolitiker Franz Steinegger als Vermittler ein. Der Arbeitskampf endete mit einem weitgehenden Erfolg der Streikenden und dem Erhalt der Mehrzahl der Arbeitsplätze.

Das vorliegende Buch, das diese Ereignisse zum Ausgangspunkt nimmt, erschien zunächst 2018 auf Italienisch und dann 2019 in deutscher Übersetzung. Es ordnet den Arbeitskampf in den „Officine“ in größere Zusammenhänge und Entwicklungslinien ein und bietet zugleich eine Mikro- und Erfahrungsgeschichte des Streiks, wie sie aufgrund mangelnder Quellen für andere Schweizer Arbeitskämpfe kaum existiert. Dies verdankt sich dem Umstand, dass die Tessiner Kantonsregierung bereits während des Streiks das Staatsarchiv und die auf die Tessiner Arbeitergeschichte spezialisierte Fondazione Pellegrini Canevascini mit der Sammlung relevanter Dokumente beauftragte. Daraus entstand ein Forschungsprojekt, bei dem unter anderem 71 Oral-History-Interviews mit Streikenden sowie Sympathisantinnen und Sympathisanten geführt wurden.

Nach einer Einführung, in der Paolo Barcella die Entstehung des Buches und der darin verwendeten Quellen knapp umreißt, gibt Nelly Valsangiacomo einen konzisen Überblick über die Schweizer Streikgeschichte mit einem besonderen Augenmerk auf die Entwicklung im Kanton Tessin. Von den Streikwellen um die Wende zum 20. Jahrhundert, in der Zeit des ausgehenden Ersten Weltkriegs und in den späten 1940er-Jahren führt sie ins Zeitalter der „Arbeitsfriedens“ während der „Trente Glorieuses“, hin zur kleinen Streikwelle während der Erdölkrise, einer erneut streikarmen Periode in den 1980er-Jahren bis zu den Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte. Der Beitrag von Gabriele Rossi gibt einen umfassenden Überblick zur Geschichte der „Officine“, deren Anfänge stark mit dem Bau der Gotthardbahn in den 1870er-Jahren verbunden sind. Mit der Verstaatlichung der wesentlichen Schweizer Eisenbahnlinien gelangten die „Officine“ 1909 in Bundesbesitz. Von diesen Anfangsjahren, während denen es bereits wiederholt zu Streiks kam, spinnt Rossi den Faden weiter durch die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zum Arbeitskampf von 2008. Im letzten Abschnitt des Beitrags rekonstruiert er die Entwicklung in den 10 nachfolgenden Jahren, die von komplexen Verhandlungen und Projektplanungen gekennzeichnet waren, und endet mit einem offenen Schluss.

Der Beitrag von Alessandro Moreschi und Mattia Pelli umreisst die Auswahl der Stichprobe und die Schwerpunkte der Oral-History-Interviews. Bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner wurde versucht, ein möglichst breites Spektrum von Beschäftigten der „Officine“ punkto Ausbildung, Beruf, Anstellungsstatus, Alter und Geschlecht abzudecken und auch wesentliche Gruppen von Unterstützerinnen und Unterstützern einzubeziehen. Die Gespräche wurden als lebensgeschichtliche Einzelinterviews von durchschnittlich einer bis anderthalb Stunden Dauer geführt und auf Video aufgezeichnet. Thematische Schwerpunkte lagen auf dem Werdegang der Streikenden, der Erfahrung des Streiks sowie der Zeit, die darauf folgte. Der umfangreichste Beitrag des Bandes von Paolo Barcella und Nelly Valsangiacomo rekonstruiert Ursprünge, Verlauf, Aktionsformen und Beilegung des Streiks auf der Basis dieser Interviews. Die umfangreichen Zitate aus den Gesprächen geben dabei ungewohnt detaillierte Einblicke in die Dynamik des Arbeitskampfes aus einer multiplen Mikroperspektive, die neben den Handlungs- und Organisationsformen etwa auch die – von der jüngeren Streikforschung vermehrt diskutierte – emotionale Seite beleuchtet. Ein Interview mit Danilo Catti, dem Produzenten des bereits im August 2008 fertiggestellten und dem Band als DVD beiliegenden Dokumentarfilms Giù le mani, beschließt den Band.

Insgesamt bietet das aus einem gewerkschaftsaffinen Umfeld stammende und sich an eine breitere Öffentlichkeit richtende Buch eine außerordentlich interessante und gut kontextualisierte Darstellung des Streiks in den SBB-Werkstätten Bellinzona. Das Ereignis wird dabei in seiner Exzeptionalität auf der politisch-gesellschaftlichen Bühne des Tessins und der Schweiz wie auch der Mikroebene einzelner Streikender rekonstruiert, zugleich aber auch in die übergreifende Entwicklung der industriellen Beziehungen in der Schweiz eingeordnet. Die Oral-History-Interviews, die in einer sonst kaum je erreichten Dichte erhoben wurden, werden zweifellos auch für die zukünftige Forschung von großem Wert sein.

Redaktion
Veröffentlicht am
26.08.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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